Die Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 12. Februar 2023 war nicht nur etwas für Polit-Junkies, für Spötter oder Fans der Bundeshauptstadt oder gar nur für Berliner. Ganz im Gegenteil: Seit Ernst Reuter Ende 1948 zum ersten Oberbürgermeister (später dann zum Regierenden Bürgermeister) von West-Berlin gewählt wurde, schaut die ganze Nation einigermaßen interessiert darauf, wer in der größten Stadt des Landes regiert. Wie es mit der Regierungsbildung aktuell in Berlin laufen wird, steht erst dann wirklich fest, wenn eine neue Regierung vereidigt worden ist. Doch schon am Wahlabend kamen Zuschauer der Wahlsendungen in ARD und ZDF auf ihre Kosten. Die Auftritte der Protagonisten ließen zudem erkennen, welche Strategien der Kommunikation sie verfolgten. So unterschiedlich ihre Rollen auch waren: Kommunikativ gab es nicht viel auszusetzen.
Wahlabende im Fernsehen haben für Politikinteressierte Kultstatus. Ganz gleich, ob Landtags- oder Bundestagswahl: Es beginnt mit dem Countdown zur 18-Uhr-Prognose, geht weiter mit ersten TV-Schalten zu den Wahlpartys der Gewinner („Jubel bei der XY-Partei“) und Verlierer („betretene Gesichter bei der YZ-Partei“), und spätestens um 18.15 Uhr steht mindestens ein B-Promi aus der Bundes- oder Landespolitik im Studio an der Seite von Bettina Schausten (ZDF) oder vielleicht Ellen Ehni (WDR). Dann folgt die erste Hochrechnung, die zumeist nur einige Zehntel Prozentpunkte von der Prognose abweicht, und es beginnt das Warten auf die Spitzenkandidaten. Die bedanken sich in der Regel zunächst bei ihren Wählern und ihrer Parteibasis – und seit ein paar Jahren fällt kurz darauf gerne noch ein Satz, in dem das Wort „Demut“ vorkommt. Das Wahlergebnis wird also üblicherweise mit Demut zur Kenntnis genommen.
Das Demütige hat Markus Söder (Bayern) genauso gut drauf wie Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern). Auch in Berlin können sie das, zeigte sich am Abend des 12. Februar 2023, als Kai Wegner (CDU), Franziska Giffey (SPD), Bettina Jarasch (Grüne) & Co. vor die Kameras traten. In den Wahlsendungen am Abend gab es neben Kult auch Aufschlussreiches zur Kommunikation der Protagonisten. Ein paar Beobachtungen.
Relativer Gewinner öffnet verbal die Tür zu seinen Gegnern
Als relativer Wahlgewinner stand am 12. Februar schon bei der 18-Uhr-Prognose die Berliner CDU fest. Erstmals seit 22 Jahren lag sie nach Zugewinnen von rund zehn Prozentpunkten gegenüber der Wahl von 2021 mit rund 28 % vorn. Eine regierungsfähige Mehrheit unter Führung von CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner zeichnete sich zwar nicht ab, aber der relative Gewinner präsentierte sich an dem Abend zuversichtlich, eine Regierung bilden zu können. Nicht siegestrunken, auch nicht überheblich, sondern entschlossen wollte Wegner wirken. Dazu passte sein mehrfach wiederholtes Mantra, er wolle „eine stabile Regierung bilden, die richtig anpackt und Probleme löst“. Diese Wortwahl war kommunikationstechnisch geschickt, denn sie strahlte nicht nur Regierungswillen, sondern auch ein Verständnis von politischer Praxis aus. Zugleich schloss sie keinen der potenziellen Koalitionspartner SPD und Grüne per se aus. Wer würde auch schon von sich behaupten, keine stabile Regierung und keine Probleme lösen zu wollen?
Insgesamt hinterließ Wegner den Eindruck eines Gewinners, der um die Realitäten im neuen Abgeordnetenhaus wusste und die Tür zu seinen Hauptgegnern im Wahlkampf (SPD und Grüne) verbal öffnete. Seine erkennbare Strategie: Nicht Gegensätze aufbauen, sondern Anschlussfähigkeit demonstrieren. Angesichts seines nur relativen, aber nicht absoluten Wahlsiegs ohne vernünftige Alternative. Kurzum: Kommunikativ am Wahlabend sehr gut gelöst.
Franziska Giffey tappt nicht in die Simonis-Falle und schafft den kommunikativen Spagat
Deutlich schwerer tat sich die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey. Kein Wunder: Sie hatte mit ihrer SPD ein miserables Ergebnis eingefahren. Die führende Regierungspartei lag rund zehn Prozentpunkte hinter der CDU. Nicht mal Platz zwei schien sicher. Erst gut zwei Wochen später stand amtlich fest, dass die SPD 53 Stimmen vor den Grünen gelandet war. Das reichte tatsächlich noch für Platz zwei. Am Wahlabend aber war das alles andere als gewiss. Also verfolgte Franziska Giffey stundenlang die Strategie, darauf hinzuweisen, es müsse erst einmal klar sein, ob ihre Partei auf Platz zwei komme. Dann sei es für ihre SPD möglich, eine stabile Regierung zu bilden. Das deuteten Zuschauer so, dass sie ihr bestehendes Regierungsbündnis mit Grünen und Linkspartei fortsetzen wolle, sofern die SPD es anführe. Allerdings war das keineswegs so eindeutig, denn Giffey betonte auch wiederholt, das Wahlergebnis sei ein Auftrag für deutliche Veränderungen.
Obendrein merkte sie immer wieder an, es gehe nun nicht um sie. Sie klebe nicht an ihrem Amt. Sie machte also nicht den Fehler wie weiland Heide Simonis. Die langjährige schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin hatte nach ihrer gescheiterten Wiederwahl im Jahr 2005 auf die Frage eines Journalisten, warum sie keine Große Koalition angestrebt habe, gesagt: „Und was wird dann aus mir?“ Hintergrund: In einer GroKo wäre ihre Partei, die SPD, Juniorpartner der CDU geworden. Sie hätte also ihr Amt als Ministerpräsidentin aufgeben müssen. Diesem Beispiel folgte Franziska Giffey in Berlin nun nicht. Sie versuchte kommunikativ den Spagat. Einerseits: Würde ihre Partei auf Platz zwei kommen, könnte sie mit Grünen und Linkspartei weiterregieren. Andererseits: Würde es nicht zu Platz zwei reichen, käme dieses Bündnis eher nicht in Betracht. Und drittens: Eine Zusammenarbeit mit der deutlich vorn liegenden CDU schloss sie auch nicht apodiktisch aus. Für alle Fälle trieb sie den Preis ihrer Partei für einen etwaigen Regierungseintritt als Juniorpartner schon mal hoch.
Unterm Strich lässt sich sagen: Giffey ließ vieles offen und konnte diese Strategie den ganzen Wahlabend über durchhalten, weil es kein zweifelsfreies Ergebnis gab. Unter diesen Umständen löste Giffey den für sie schwierigen Wahlabend kommunikativ gut.
Grüne Spitzenkandidatin bevorzugt scheinbares Understatement, statt am Portal des Roten Rathauses zu rütteln
Bleibt noch Bettina Jarasch, die Spitzenkandidatin der Grünen. Sie erzielte das zweitbeste Ergebnis in der Geschichte ihrer Partei in Berlin und wäre um ein Haar erneut zweitstärkste Partei geworden (2021 hinter der SPD und vor der CDU). Mit der diesbezüglichen Unklarheit am Wahlabend ging Jarasch gänzlich anders um als ihre amtierende Senatschefin Giffey. Zwar streute sie dann und wann ein, das Amt der Regierenden Bürgermeisterin zu beanspruchen, wenn es zu Platz zwei reichen sollte und die Grünen in einem gedachten Weiter-so-Bündnis mit SPD und Linkspartei die Nummer eins wären.
Doch Bettina Jarasch verlegte sich am Wahlabend eher auf allgemeine strategische Feststellungen und auf Botschaften an ihre Partei. Die Grünen würden nach der Wahl mit allen demokratischen Parteien Gespräche führen. In ihrer Partei bedeutet diese Sprachregelung: Mit allen außer der AfD. Ihre Partei stehe für eine ökosoziale Zukunft, für progressive Politik und wolle Veränderungen. Konkreter wurde sie nicht, sodass nicht klar wurde, ob unter Veränderungen primär das dauerhafte Sperren der Friedrichstraße für den Autoverkehr zu verstehen wäre, die Enteignung größerer Wohnungsbestandshalter in Berlin oder zum Beispiel das Ziel, Hunderttausende neuer Wohnungen in der Hauptstadt zu bauen. Das war jedoch auch nicht so wichtig, denn am Wahlabend wurden noch keine potenziellen Koalitionsverhandlungen geführt.
Machtpolitisch übernahm Bettina Jarasch die Rolle der Bescheidenen. Nicht unbedingt inhaltlich, sondern in Bezug auf ihre Person. Sie wirkte nicht so, als sei das Amt der Regierenden Bürgermeisterin ihr größter Traum. Oder um es ein wenig so zu sagen wie dereinst Gerhard Schröder, der am Zaun des Kanzleramts gerüttelt haben wollte: Jarasch rüttelte nicht am Portal des Roten Rathauses. Wäre ihre Partei am Ende auf Platz zwei gekommen, hätte sich das womöglich geändert. Dann wäre vielleicht Schluss mit dem zumindest scheinbaren Understatement gewesen. So aber hielt Jarasch am Wahlabend ihre Strategie des zurückhaltenden Auftritts durch. Angesichts der Berliner Verhältnisse am Wahlabend des 12. Februar 2023 löste Jarasch ihre Aufgabe kommunikativ ganz gut.
Foto: pixabay
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